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In Chartres will man die Kathedrale sehen

Auf einem Hügel steht eine Stadt. Man sieht drei große Kirchen und ein paar alte Häuser. Ein Weg führt zu der Stadt hin.
Chartres Silhouette wird von drei großen Kirchen dominiert. Die beiden Spitzen der Kathedrale Notre Dame überrragen alles. Foto: Kai-Uwe Ruf

Mittelalter, Kunst und ein bisschen Lebensart

In einer gotischen Kirche sind ein paar Besucher. Sie betrachten eine Wand mit vielen in Stein gemeißelten Figuren.
Der Chorrundgang der Kathedrale von Chartres. Foto: Kai-Uwe Ruf

Warum nach Chartres? Klar, da will man die Kathedrale sehen. Das gotische Bauwerk ist eine Attraktion erster Güte. Mehr als eine Million Besucher kommen laut Deutschlandfunk Kultur jedes Jahr in die Stadt. Und sie wollen vor allem eines sehen: Das große Gotteshaus.

Kleine Stadt - riesige Kirche, so könnte man sagen. Chartres hat nur rund 38. 000 Einwohner. Die Hauptstadt des Départments Eure-et-Loire liegt rund 90 Kilometer südwestlich von Paris. Sie gilt als Marktzentrum der Beauce. Außerdem gibt es ein bisschen Elektroindustrie und Maschinenbau. Das lockt nicht wirklich viele Neugierige in die Stadt. Aber diese fantastische Kirche!

Notre-Dame von Chartres ist ein wirklicher Hingucker. Ich staune schon, als wir am Ufer der Eure entlang bummeln und dann zum ersten Mal die Stadt auf ihrem kleinen Hügel erblicken. Die beiden riesigen Türme von Notre-Dame ragen wie zwei gestreckte Finger hoch in den Himmel. Zwei weitere große Kirchen sind zu sehen – Saint Pierre und Saint Alban, aber Notre-Dame überragt alles.

 

An Saint Pierre kommen wir auf unserem Weg in die Stadt vorbei. Der Chorrundgang mit seinen mächtigen Bögen beeindruckt mich, aber insgesamt wirkt das Gebäude sanierungsbedürftig, so als sei das nötige Geld, die große Pfarrkirche zu unterhalten, schon seit langem ausgegangen. Trotz allem sind die bunten Glasmalereien in den Fenstern ein Hingucker.

 Anders die Stadt. Wir sind erstmal enttäuscht, als wir durch die schmucklosen Gassen hinauf Richtung Zentrum gehen. Wenig Fußgängerzone, wenig Geschäfte, an mehreren Stellen wird gebaut – Chartres scheint sich hübsch zu machen für künftige Besucher, aber wir sind wohl ein wenig früh gekommen.

 Gebaut wird auch vor der großen Kathedrale. Das Pflaster ist aufgerissen, Presslufthämmer dröhnen, ein Bagger lädt donnernd Steine auf einen LKW – wir eilen ins Gotteshaus, um Ruhe zu finden.

Warum so groß? Alles Prunk und Protz?

In Stein gemeiselte Figuren sind Teil einer Kirchendekoration.
Detailreich gestaltet sind die Figuren des Chrorrundgangs der Kathedrale Norte Dame in Chartres. Sie erzählen die Geschichte von Maria und Jesus. Foto: Kai-Uwe Rufersu

 Drinnen kommt man aus dem Staunen kaum heraus. Die Größe und die Weite der Räume sind immens. Bögen, Säulen, Skulpturen, Kapellen, Altäre und dann das Licht, das durch die bunten Glasfenster fällt. „Gott ist Licht“ - diese mittelalterliche Vorstellung wird hier beeindruckend inszeniert.

 Aber mehr als alles andere beeindruckt mich aber die Chorumfassung. Fasst 100 Meter lang ist die Tour um den Chorturm. 40 in Stein gemeißelte Szenen erzählen die Geschichte von Maria und Jesus. Jede Szene ist detailverliebt ausgearbeitet. Die Künstler haben nichts ausgelassen. Die Beschneidung Jesu ist genauso abgebildet wie die Bekehrung des ungläubigen Thomas und schließlich die Krönung Marias im Himmel.

 Mit unserem Staunen sind wir nicht allein. Rund um den Chor sitzen Kunststudenten und zeichnen Figuren ab.

 Der Chorrundgang wurde später als die eigentliche Kirche geschaffen. Er stammt aus dem 16. Jahrhundert. Aber auch schon im Mittelalter diente die Kirche auch zu Unterrichtszwecken. Im 12. Jahrhundert waren die bischöflichen Schulen die einzig wirklichen Schulen im Land. Offener und zwangloser wurde dort unterrichtet als in den früheren klösterlichen Schulen. Statt Meditation stand nun Diskussion auf dem Programm.

 Nach ausführlichem Staunen verlassen wir die Kathedrale, leider ohne dass ich das bekannte Labyrinth ausführlich gewürdigt habe. Vielleicht das nächste Mal…

 Auf einmal ist das alles ohnehin nicht zu schaffen. Warum so groß, frage ich mich? Alles Prunk und Protz? Ist das nur mittelalterliche Angeberei nach dem Motto „Ich bin der Bischof, ich bin der Größte!“?

Es ging um Macht und ums Seelenheil

 Im Mittelalter dachte man aber anders, zumindest zum Teil. Es ging ums Herrschen, aber auch ums Seelenheil.

 Man herrschte dadurch, dass man geben konnte. Wer nichts mehr zu geben hatte, dem folgte auch niemand. Ein Kriegsherr hatte Vasallen, weil es die Aussicht gab, etwas von der Beute abzubekommen. Man gab also, um Macht zu haben. Vor diesem Hintergrund wird die Kathedrale zum Symbol. Der Bischof gibt sie Gott, und er zeigt, was er zu geben hat, indem er ein fantastisches Gotteshaus errichten lässt.

 Klar haben die kirchlichen und weltlichen Herrscher sich auch im 12. und 13. Jahrhundert prächtig präsentiert. Bunte Gewänder und erlesener Schmuck gehörten damals auch bei den kirchlichen Fürsten dazu. Das war anders als noch hundert Jahre zuvor, als Mönche und Äbte in Klöstern die Askese predigten und in einigen Orden auch mehr oder weniger streng danach lebten.

 Im 12. Jahrhundert entwickelten sich die Städte zu reichen Zentren. Die großen Kaufleute sammelten Vermögen an. Die Kirche profitierte, sie kassierte reichlich Abgaben und häufte so ihr eigenes Vermögen an.

Das brachte ein Problem mit sich: Reichtum war nicht gottgefällig. Geld, Gold und Geschmeide verstellten den Weg in den Himmel, wenn es am jüngsten Tag zur finalen Abrechnung kommen sollte. Für die Menschen im Hochmittelalter war das eine ernsthafte Befürchtung. Schließlich lebte man in unmittelbarer Erwartung des Jüngsten Gerichts. Und Gott galt als strenger Richter.

Wer etwas für sein Seelenheil tun wollte, der spendete daher. Und wer viel tun wollte, der spendete reichlich, vor allem, wenn der Tod nahte. Die Bischöfe bauten von dem Geld die Kathedralen - um zu glänzen und zu herrschen und um selbst ihr eigenes Seelenheil zu sichern.

Eitelkeiten spielten natürlich auch eine Rolle. Sicher ging es auch ums Prestige. Zwischen 1180 und 1270 entstanden in Frankreich etwa 80 Kathedralen. Die großen Kirchenfürsten bauen quasi um die Wette. Chartres konkurrierte dabei besonders mit Bourges.

Bummeln und genießen - auch das geht in Chartres

An einem Holzsteg liegen mehrere Tretboote. Im Hintergrund sieht man einen historischen Turm und viele Bäume.
Entspannung an der Eure: Mit dem Titel La Petite Venice wirbt ein Gartencafé, bei dem man auch Tretboote mieten kann. Foto: Kai-Uwe Ruf

Wir gehen über den großen Platz, vorbei an Touristencafés, die - wohl wegen des Baulärms - nur mäßig gefüllt sind und setzten uns zwei Straßen weiter in eines der In-Cafés der jungen Chartrainer.

An vielen Tischen sitzen Schülerinnen, trinken Café und rauchen. Es geht lebhaft zu. Nach unserem Ausflug in die Geschichte ist das ein angenehmer Kontrast.

Als wir weiter bummeln, stehen wir auf einmal vor einem Schokoladenladen. Alles ist dort superfein. Ich kann nicht Nein sagen und gehe rein. Die Schoko-Leckereien liegen in Vitrinen als wären es kostbare Schmuckstücke. Die Bedienung ist gekleidet wie eine Stewardess. Ihr Kostüm ist farblich perfekt abgestimmt auf die Auslagen. Ich wähle ein kleines Stück einer großen Schokoladenplatte. „200 Gramm“, sage ich vorsichtig. Die Dame bricht einen kleinen Teil der großen Platte ab, wiegt die Ware und packt sie vorsichtig in durchsichtiges Zellophan – mit Zange und leicht abgespreiztem kleinen Finger. Ich schaue mich um und wähle tollkühn noch zwei kleine Schokokugeln. An der Kasse zahle ich mit einem roten Schein und erhalte kam nennenswert Wechselgeld zurück.

Mit einem Schmunzeln auf dem Gesicht und einem leichten Gefühl auf dem Herzen verlasse ich das Geschäft. Echten Luxus muss man genießen können.

Zum Abschluss geht es in ein Gartenlokal an der Eure. Wir entscheiden uns für Burger und Cola, sitzen in der Sonne, schauen zu, wie ein paar Touristen in Tretbooten auf dem Fluss manövrieren und genießen den Abend.

Chartres ist außergewöhnlich. Es gibt viel Mittelalter, aber auch modernen Alltag. Schön, wenn man beides genießt.


Die Informationen über das Mittelalter und die Kathedralen stammen aus dem Buch "Die Zeit der Kathedralen. Kunst und Gesellschaft 980 -1420" des französischen Historikers Georges Duby. Es ist beim Surkamp-Verlag als Taschenbuch erhältlich. Duby schreibt gut verständlich und bietet einen tiefen Blick in die Kultur- und Sozialgeschichte des Mittelalters. 

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